Der Fund der Flaschenpost von 1891 im Westturm von Schloss Friedenstein hat großes Aufsehen erregt. Die handschriftliche Nachricht ist überschrieben mit “Gotha im Jahre des Unheils 1891”. Im Blogbeitrag zum Fund haben wir nach Ideen gefragt, worauf diese Charakterisierung zurückgehen könnte. Drei Vorschläge gibt es inzwischen dazu.
Leser Uwe Adam vermutet, die Formulierung beziehe sich “unter anderem auf das Nōbi-Erdbeben in den Provinzen Mino und Owari, das am 28. Oktober Japan in einer Stärke von ca. 8,0 auf der nach oben offenen Richter-Skala erschütterte. Fast 7.300 Tote und über 17.000 Verletzte waren zu beklagen. Ungefähr 140.000 – 192.000 Wohneinheiten sind dabei zerstört worden. Damit war es das bisher größte Erdbeben in Japan. 80 Kilometer lange Erdrisse und 9Meterm tiefe Höhenverschiebungen waren die Folgen. Die traditionell in dieser Zeit sehr guten Beziehungen des Deutsches Reiches nach Japan ließen das Entsetzen über die unglaublichen Auswirkungen dieser Naturkatastrophe auch in Deutschland sehr groß werden, zumal es noch mehr als 3.000 Nachbeben in den folgenden 14 Monaten gab. Es veröffentlichten auch viele deutsch Gazetten zahlreiche Berichte über dieses Ereignis und die allgemeine Anteilnahme war sehr groß. Der Untergang der Utopia mit über 500 Toten nahe Gibraltar fällt auch in dieses Jahr in den März. Darüber hinaus geschah auch das bis heute schwerwiegenste Eisenbahnunglück in der Schweiz bei Münchenstein, bei dem Gustave-Eiffel-Brücke einstürzte und in den Fluss Birs fiel. Der Zug, der sich darauf befand, stürzte ebenfalls hinab. So war das Jahr 1891 voll von Katastrophen, die den Schreiber der Notiz zu dieser Einschätzung bewogen haben könnten.”
Astrid Ackermann, Historikerin und Mitarbeiterin des Welterbe-Kompetenzzentrums der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten, hält es für wahrscheinlich, “dass es um die Teuerung der Nahrungsmittelpreise 1891 geht. Dass im Dokument selbst Preise ausgewählter Lebensmittel aufgelistet sind, halte ich schon für einen deutlichen Hinweis. Zeitgenössisch ist diese Teuerung vielfach aufgegriffen worden, etwa vom Verein für Socialpolitik (gegründet von Gustav Schmoller) und den von Hans Delbrück herausgegebenen ‘Preußischen Jahrbüchern’. Die hier beschriebenen Preisentwicklungen passen auch in ihrer Höhe zu den Preisen auf dem Flaschenpost-Dokument. Das passt zudem wohl auch dazu, dass für die sozialistische Frauenbewegung nicht zuletzt das Thema Lebensmittelpreise wichtig war. Die wissenschaftlichen Schriften der Zeit verweisen auf den Zusammenhang mit einer umfassenden Missernte des Getreideexporteurs Russland in diesem Jahr und Auswirkungen der deutschen staatlichen Schutzzollpolitik. In einem Text heißt es auch, es seien gar keine Kartoffeln mehr auf dem Markt (natürlich eine Übertreibung), deswegen müsse man auf das Brotgetreide ausweichen, das aber auch deutlich teurer wurde.”
Die Juristin Maike Herz von der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten bezieht die Formulierung auf die starke sozialdemokratische Tradition in Gotha: “In Thüringen entwickelte sich in dieser Zeit eine starke Arbeiterbewegung und das Land wurde zur ‘Wiege der Sozialdemokratie’. So wurde 1869 in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, eine der beiden Vorgängerorganisationen der SPD gegründet. Die SPD entstand 1875 in Gotha, wo sich die SDAP mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zusammenschloss. Das Gothaer Programm legte im Folgenden erste Grundsätze der SPD-Politik fest. Es wurde 1891 durch das Erfurter Programm abgelöst. Vielleicht war der Verfasser ein glühender SPD-Anhänger und hat das Ende des Gothaer Programms als „Unheil“ angesehen.”
Ob Katastrophen in der sich zur Globalisierung anschickenden Welt, die soziale Differenzen verschärfende Teuerung oder die damals aktuellen politischen Entwicklungen innerhalb der Sozialdemokratie – Entwicklungen seiner Gegenwart müssen den Schreiber der Zeilen grundlegend beeindruckt haben. Und offenbar hielt er das Erlebte für so singulär, dass er davon ausging, die Nachwelt würde seine Anspielung ohne weitere Erklärungen entschlüsseln können. Dass auch später noch viele gravierende Ereignisse die Bezeichnung “Jahr des Unheils” rechtfertigen würden, ahnte er wohl nicht.
Franz Nagel für die Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten