Auf vieles sind die Restauratoren gefasst, die gerade im Westflügel von Schloss Friedenstein in Vorbereitung der anstehenden Sanierungsarbeiten jüngere Einbauten entfernen, aber auch Teile der historischen Ausstattung vorsichtig ausbauen und für ihre spätere Rückkehr einlagern. Unerwartete Bauteile, nachdenklich stimmende Schäden und Einblicke in die Baugeschichte sind dabei Alltag. Und spätestens seit dem Fund einer Flaschenpost im Westturm ist keine Überraschung unwahrscheinlich. Auf Munition aus dem Zweiten Weltkrieg waren die erfahrenen Experten aber nicht gefasst.
Erst kürzlich hatte der von der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten beauftragte Restaurator Stefan Keilwerth mit seinem Team die hölzerne Ausstattung eines im späten 19. Jahrhundert eingebauten und damals hochmodernen Badezimmers ausgebaut. Nun ging es an den Bodenbelag, denn in der darunter liegenden Deckenkonstruktion werden Schäden durch Nässe vermutet. Was sie zuerst entdeckten, waren jedoch Blechhülsen mit Gewehrpatronen.
Der herbeigerufene Kampfmittelräumdienst stellte fest, dass es sich um Leuchtspurpatronen für Maschinengewehre vom Kaliber 7,62 Millimeter aus amerikanischer Produktion handelt. Leuchtspurmunition macht es möglich, die Flugbahn des Geschosses zu verfolgen. Die pyrotechnische Ladung kann aber auch Brände verursachen.
Vermutlich stammt der Fund aus der kurzen Zeit amerikanischer Besatzung in Thüringen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Am 4. April 1945 nahmen amerikanische Soldaten die Stadt Gotha ein. Der Stadtkommandant Josef von Gadolla, dessen Kommandozentrale sich auf Schloss Friedenstein befand, hatte sich am Vortag zur Kapitulation entschlossen, war jedoch auf dem Weg zu den amerikanischen Verbänden von Wehrmachtssoldaten abgefangen worden. Dennoch kapitulierte die Stadt einige Stunden später. Beschuss und die Gefahr weiterer Bombardierungen waren damit beendet. Am 5. April wurde Josef von Godolla, seit 2018 Ehrenbürger der Stadt Gotha, in Weimar standrechtlich erschossen.
Für etwa drei Monate stand Gotha nun unter Verwaltung der amerikanischen Besatzungsmacht, bevor Thüringen nach der Konferenz von Jalta im Juli 1945 der sowjetischen Besatzungszone zugeschlagen wurde. Mit dem Patronenfund ist nun ein authentisches Zeugnis der Ereignisse am Ende des Krieges ans Licht gebracht.
Wie die Patronen an ihren verborgenen Fundort kamen, wo sie fast 80 Jahre lang unentdeckt blieben, lässt sich nur spekulieren. Vielleicht vergaß sie ein amerikanischer Soldat, und ein späterer Finder versteckte sie – möglicherweise, um nach dem Besatzungswechsel nicht in Gefahr zu geraten. Als gesichert hingegen kann gelten, dass Besatzungssoldaten sich im Schloss aufhielten. Und das nicht nur, weil das Schloss ein strategisch wichtiges Gebäude für die Überwachung von Stadt und Umland war. Schon während der amerikanischen Besatzungszeit kam es hier zu Kunstdiebstählen und auch zu illegalen Verkäufen.
Franz Nagel für die Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten