Mehrere Kilometer Wissen mussten 2022 und 2023 aus dem Ostturm von Schloss Friedenstein in Gotha ausziehen. Im Rahmen der laufenden Sanierung des frühbarocken Residenzschlosses war festgestellt worden, dass der östliche Turm aus statischen Gründen notgesichert und beräumt werden musste. Bei der jahrhundertealten Substanz des monumentalen Bauteils war das nicht nur für die Bauherrin, die Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten, sondern auch für die Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt eine gewaltige Herausforderung. Sie musste den Auszug stemmen und organisieren. 300.000 Bücher auf viereinhalb laufenden Regalkilometern mussten den Ostturm verlassen. Mit den Büchern zogen auch 50 Tonnen an Stahlregalen aus. Das alles passierte unter den strengen Blicken der Statiker, denn so wichtig die Entlastung der Baukonstruktion war – sie musste vorsichtig und ausgewogen passieren.
Neben der Entlastung des Turms war die Beräumung auch für die Sanierungsplanung notwendig. Erst die freien Wände, Decken und Böden ermöglichen weitere Untersuchungen, bei denen das statische Gefüge im Fokus steht. Statiker, Bauforscher und Architekten müssen dabei wortwörtlich einen Blick auf die Konstruktion werfen, stichprobenartig werden Wände und Bauteile geöffnet, um den Zustand des Tragwerks abschätzen zu können.
Wie in vielen Schlössern – die nicht nur Ausdruck eines Herrschaftsanspruchs und wie in Gotha Regierungssitz mit vielköpfigem Hofstaat sind, sondern praktisch gesehen auch Lebens- und Wohnraum einer Familie über Generationen waren – führte die Nutzung samt Um- und Ausbauten zwangsläufig zu Eingriffen in die Baukonstruktion. Hier ein Raum geteilt, dort aufgestockt. Im Ostturm von Schloss Friedenstein rühren die komplexen Schäden teils noch von Umbauten im 17. Jahrhundert her, damals war eine massive Trennwand über mehrere Geschosse eingebaut worden. Nach Jahrhunderten kommt auch Materialermüdung an den Tragwerken hinzu. Im Rahmen der Schlosssanierung sollen die Schäden behoben werden – ein anspruchsvolles Unterfangen, das Maßnahmen vom Keller bis zum Dach erfordert.
Erster Hausherr und Bewohner von Schloss Friedenstein war Herzog Ernst I., er ließ Schloss Friedenstein ab 1643 als Residenz seines kurz zuvor gegründeten Herzogtums Sachsen-Gotha errichten. Der Ostturm prägt seither zusammen mit seinem westlichen Pendant die sonst eher schlichte Anlage von imposanter Größe. Schon 1677 brannte der Turm, sieben Jahre später begann der Wiederaufbau. Bei Voruntersuchungen im Rahmen der von Bund und Land geförderten Sanierung von Schloss Friedenstein mit einem Gesamtvolumen von 110 Millionen Euro hatten sich so schwere Schäden am Ostturm gezeigt, dass die Statiker Alarm schlugen. 2021 mussten in diesem Zusammenhang sechs Pfeiler im Keller durch Stahlumgurtungen verstärkt werden, die dabei helfen, die Lasten wieder zuverlässig in die Fundamente abzuleiten. Erst danach konnten eine vorübergehende Sperrung aufgehoben und die Beräumung angegangen werden.
Um fast drei Dutzend Tonnen Stahl leichter, wird nun die dauerhafte Sicherung des Schlossturms vorbereitet.
Anke Pennekamp für die Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten