Historische Bibliotheken sind eine unerschöpfliche Fundgrube früheren Wissens, das aber nicht allein deswegen, weil es alt ist, schon veraltet ist. Historische Bibliotheken bieten die Möglichkeit, die Geschichte zu erforschen, das Entstehen und Sich-Entwickeln von Begriffen, Künsten und Wissenschaften nachzuvollziehen, die Formung von Epochen zu erkennen, Themen zu entdecken, die schon früher verhandelt worden sind, kurzum sich historisch zu orientieren, um zu verstehen, wie etwas geworden ist. In diesen historischen Bibliotheken ist je nach Interesse und finanziellen Möglichkeiten systematisch gesammelt worden. Sie sind Wissensspeicher und Erinnerungskammern.
Ein herausragendes Beispiel hierfür ist in Deutschland die Forschungsbibliothek Gotha, die 1647 als Hofbibliothek des Herzogtums Sachsen-Gotha gegründet worden ist. Sie bewahrt einen immensen und bedeutenden Bestand an Handschriften und Drucken. Dazu zählen über 11.500 Handschriften mit hunderttausenden Einzeldokumenten europäischer und orientalischer Provenienz sowie ca. 350.000 Bände bis zum Druckjahr 1850 mit Millionen von Einzeltiteln. Sie umfasst praktisch alle Bereiche des Wissens und der Künste der letzten Jahrhunderte. Hierzu gehört auch der Bereich der Medizin, die mit allen wichtigen Werken der mitteleuropäischen Tradition vertreten ist. Zu diesem Bestand gehören nicht nur die zahlreichen Kräuterbücher, Herbarien, chirurgischen Abhandlungen, universitären Übungen (Disputationen), Pesttraktate, Einführungen in die Hausmedizin und Hebammenkunst, sondern auch die Traktate zur Anatomie, die wie die Medizin insgesamt in der Frühen Neuzeit eine neue Blüte erlebte. Das war auch dringend nötig: Gegen die grassierenden Hungersnöte und Pandemien, gegen die immens hohe Sterblichkeitsrate, für die vor allem der schwarte Tod, die Pest, aber auch die schlechte medizinische Versorgung der Bevölkerung sorgte, versuchten die Mediziner an den Universitäten, die Stadt- und Landärzte vor Ort das Gesundheitssystem stetig zu verbessern.
Grundlage hierfür war zunächst eine genaue Kenntnis der menschlichen Anatomie. Sie lieferte überhaupt eine ungefähre Vorstellung vom Aufbau des menschlichen Körpers, ermöglichte Rückschlüsse auf die Funktion der Organe sowie hinsichtlich des Zusammenhangs von Gesundheit und Krankheit. Sektionen von Leichnamen waren für lange Zeit die einzige Möglichkeit, einen Blick in das Innere des menschlichen Körpers zu werfen. Ansonsten verlief die Diagnostik ausschließlich über die äußeren Symptome mit teils tödlichen Konsequenzen. Die bekannteste Form dieser Art der Diagnose war die Harnschau.
Die Anatomie der Frühen Neuzeit fand mit Andreas Vesalius (1514–1564) ihren wohl prominentesten Vertreter. Sein Hauptwerk „De humani corporis fabrica“ (Über den Aufbau des menschlichen Körpers) von 1543 vermittelte nicht nur neugewonnene Erkenntnisse aus den zahlreichen Sektionen, die Vesalius persönlich durchführte, sondern beeindruckte auch durch rund 200 zum Teil ganzseitige Holzschnitte in höchster Anschaulichkeit und Qualität. Eine solche Darstellung des Menschen mit seinen Sehnen, Muskeln, Knochen und Organen war zuvor unbekannt. Von nun an gehörten derartige Illustrationen zur Standardausstattung anatomischer Werke.
Ein besonders schönes Beispiel hierfür veröffentlichte der Mediziner Johann Remmelin (1585–1632) mit seinem Werk „Kleiner Welt Spiegel“, das erstmals 1615 auf Latein in Augsburg, 1632 auf Deutsch in Augsburg und Ulm und schließlich 1670 sogar auf Englisch in London veröffentlicht wurde. Remmelin , der Philosophie in Tübingen und anschließend Medizin in Basel studierte, wirkte als Stadtphysicus in Ulm, Schorndorf und Augsburg. Das Titelkupfer zeigt die für diese Zeit ganz typische Repräsentation von Wissen und Glauben. Neben zahlreichen medizinischen Instrumenten, die im mittleren Bildteil an den Säulen sichtbar sind und den Beruf des Verfassers verdeutlichen, sind es vor allem die „barocken“ Topoi von Vergänglichkeit, Krankheit und Tod, deren sich der Mensch bewusst sein soll. Das „Memento mori“ („Sei dir der Sterblichkeit bewusst“) ist ebenso am unteren Rand der Kartusche zu lesen wie das „Nosce te ipsum“ („Erkenne dich selbst“) auf dem Totenschädel und das „Respice finem“ („Bedenke das Ende“). Auch die beiden männlichen Figuren sinnieren über das Leben, in das man nackt ein- und wieder austritt. Die Schlange steht hier weniger als Symbol der Medizin, wie wir es vom Äskulapstab kennen, sondern erinnert an den Sündenfall, der die Eitelkeit der Welt und des Menschen zur Folge hatte.
Der besondere Clou an Remmelins großformatigen Werk im Folio-Format sind nun die Abbildungen von Mann und Frau, d.h. Adam und Eva, in Form von Klapptafeln, die nach und nach den Blick ins Innere des Körpers freigeben . Das war weit mehr als Spielerei. Gerade im Fall der weiblichen Anatomie konnte der Betrachter gewissermaßen mit eigenen Händen die Geheimnisse der weiblichen Geschlechtsorgane und der menschlichen Fortpflanzung offenlegen. Indem Remmelin der Anatomie beider Geschlechter jeweils eigene anatomische Abbildungen widmete, hob er zugleich die anatomischen Unterschiede nicht nur in den Geschlechtsteilen hervor. Auffällig ist auch die biblische Umrahmung der ganzen Anatomie, die nicht nur auf Gott als den Schöpfer verweist, der hinter der Wolke im Himmel wirkt, sondern darauf hinweist, dass der Mensch überhaupt als Mikrokosmos zu verstehen ist. Der Mensch, die Krone der Schöpfung, spiegelt sich in der großen Welt, insofern er von allen geschaffenen Dingen etwas in sich enthält. Der Körper ist wie die Seele eine Schöpfung Gottes und deshalb allemal wert, untersucht zu werden. Die Medizin war für Remmelin eine göttliche Kunst und damit selbst eine Art Gottesdienst.
Dr. Sascha Salatowsky für die Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt
Literaturtipp: Sascha Salatowsky und Michael Stolberg: Eine göttliche Medizin. Medizin und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Gotha 2019.