Der Fremde, der am 29. November 1776 im Hoftheater in Schloss Friedenstein eine Vorstellung von Carlo Goldonis Lustspiel „Der verstellte Kranke“ besuchte, erregte einiges Aufsehen. Nicht nur das bürgerliche Publikum rätselte über seine Identität, auch die Schauspieler auf der Bühne warfen ihm neugierige Blicke zu, ja selbst Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg ließ sich von der Fürstenloge aus nach dem Namen des Neuankömmlings erkundigen.
Das Geheimnis war bald gelüftet. Es war ein früherer Schüler Conrad Ekhofs, der, diskret hinter einer Säule verborgen, im Zuschauerraum Platz genommen hatte. Johann Heinrich Friedrich Müller, mittlerweile Lustspieldichter und Schauspieler am Wiener Hoftheater, bereiste im Auftrag Josephs II. Deutschland, studierte Bühnen und Theaterverhältnisse und suchte für das Wiener Hof- und spätere Nationaltheater gute Schauspieler. Letzteres verneinte er auf Nachfrage zwar, aber Herzog Ernst II. war dennoch beunruhigt. Er witterte im zahlungskräftigen Kaiser eine unliebsame Konkurrenz und ordnete daher für die Dauer von Müllers Aufenthalt an, nur Werke von Goldoni oder Operetten zu spielen – nichts also, was einen bleibenden Eindruck hinterlassen konnte. Schließlich war nicht auszudenken, was aus dem noch jungen Hoftheater werden sollte, wenn Müller vor lauter Begeisterung die besten Schauspieler abwarb!
Die Vorstellungen, die der kaiserliche Gesandte bis zu seiner Abreise am 8. Dezember 1776 besuchte, gaben diesem dennoch hinreichend Gelegenheit, sich ein Bild vom Theater und vom Schauspielensemble zu machen. Von Conrad Ekhof – dem unbestrittenen Star der Bühne – war er erwartungsgemäß hingerissen: „Er ist unstreitig der beste deutsche Schauspieler. Solange ich das Theater kenne, habe ich noch keinen gefunden, der ihn erreicht hätte. Sein sonorischer Vortrag – die Wahrheit – die verschönerte Natur, das Geistvolle, was dieser würdige Mann in sein Spiel bringt, reißt jeden hin, der ihn zum ersten Mahle sieht.“ Auch einige von Ekhofs Schauspielkollegen bzw. -kolleginnen konnte er guten Gewissens für das künftige Nationaltheater empfehlen; das Theater selbst hielt er sogar für eines der Besten in Deutschland.
Müller fand rasch Anschluss bei den Künstlern, von denen der ein oder andere auf eine Anstellung in Wien hoffte. Finanziell hätte dies eine deutliche Verbesserung bedeutet, denn die Gagen am Gothaer Hoftheater waren mäßig, was allerdings durch Naturaliendeputate und Pensionsansprüche bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen wurde. Auch Hofkapellmeister Georg Anton Benda, der mit seiner Bühnenmusik und vor allem seinen Melodramen Erfolge in ganz Deutschland feierte, lotete seine Chancen aus und wurde später sogar selbst am Nationaltheater vorstellig, wenn auch vergeblich.
Als Müller abreiste, dürfte Herzog Ernst II. aufgeatmet haben – sein Schauspielensemble blieb ihm vorerst ungeschmälert erhalten; die Existenz des Hoftheaters war bis auf weiteres gesichert.
Friedegund Freitag für die Stiftung Schloss Friedenstein Gotha